Leseprobe

Ich komme aus einem Land, dessen Name für mich lange Zeit hohl klang. Wie alle Namen, die ausgesprochen werden von Mündern, die Worten keine Bedeutung mitgeben. So war der Name meines Geburtslandes stets in der Farbe von Fragezeichen geschrieben. Wenn ich gefragt wurde, woher ich kam, hatte ich keine spontane, authentisch mit Bedeutung versehene Antwort parat. Zögernd nannte ich ein Land und bezeichnete dies als die Heimat meiner Eltern, Albanien. Die Gegend, in welcher meine Eltern und auch ich geboren wurden, liegt nicht innerhalb der genannten Ländergrenzen. Dennoch sagte ich es. Denn Albanien gab es und es beschrieb mich trotzdem. Und das mit einem Wort, welches eine legitimierte Eigenständigkeit besaß. Das andere nicht. Ein Wort, das es nicht gab, konnte ich nicht aussprechen. Ein Wort, welches nicht vorher schon von meinen Mitmenschen angenommen worden war, konnte ich nicht annehmen. Ich konnte nicht riskieren, auch noch meine Scheinzugehörigkeit zu verlieren. Ich setzte meine Schritte auf einen Boden, den es nicht gab. Ich fühlte meinen Körper in Gefahr, meine Beine spürte ich gar nicht. Dennoch lebte ich und wuchs auf in einem Land, welches es sehr wohl gab: Deutschland.

Wenn man lebt, hört man Geschichten. Geschichten, die nicht mit Ländern zu tun haben, sondern mit Menschen. Eine Geschichte, die heute noch zu meinen Lieblingsgeschichten zählt, ist die des heiligen Martin. Als ich sie das erste Mal hörte, saß ich im Stuhlkreis in meinem evangelischen Kindergarten in München und sah Martin sich aus den von unserer Kindergärtnerin vorgelesenen Worten erheben und in unserer Mitte zu einer Gestalt werden. Er stand übergroß auf seinem gigantischen Pferd, größer noch als die Decke des Raumes, dessen Parkettboden unter den Hufen des Pferdes zu Stein wurde. Von den sich unter dem Fell spannenden Muskeln des Pferdes stieg warmer Dampf auf in der kalten Luft. Ein aufgeregtes Schnauben hallte aus ferner Zeit in meinem Hinterkopf wider. Auf dem Boden einer anderen Welt kniete ein Bettler. Martins Pferd stand still auf seinen Hinterbeinen. Er selbst hatte kein Gesicht. Jedoch ein hocherhobenes, glänzendes Schwert, welches soeben einen roten Mantel zweigeteilt hatte. Der leuchtende Stoff wehte im luftleeren Raum. Bewegt von einem steten Wind, dessen Existenz ich in jenen inneren Räumen fühlte, die uns in besonders bedeutungsvollen Momenten näher scheinen als unsere direkte Umgebung. Dankbarkeit breitete sich im Körper des Bettlers aus und das Bild löste sich auf. Wenn Geschichten erzählt wurden, fühlte ich mich sicher. In der Welt der Geschichten fühlte ich mich allen anderen gleich. Wir alle hörten zu. Wir alle waren eins. In Geschichten ergab die Welt Sinn. Ganz anders als im täglichen Leben. Der Mensch drückte sich in Sprach- und Verhaltensmustern aus und nicht momentbezogen. Mir war, als sähe ich zwei Welten. Jene der festen Materialität und gleichzeitig beobachtete ich Formen und Farben, die sich ohne Richtung bewegten. Mittendrin die Menschen, die in kategorisierbaren Mustern aufeinander reagierten. In mir entstand ein Gefühl des Gefangenseins. Die zwei Welten rasteten selten ineinander ein. Und wenn sie es taten, dann blieb das Gefühl der Befreiung, das sich dann um mich legte, nicht lang genug, als dass ich es mir hätte merken und durch Erinnerung hätte heraufbeschwören können. Ich wandelte allein in mich zurückgezogen in ständiger Beobachtung dieses Schleiers umher. Beobachtete, beobachtete, beobachtete. War das das Leben?, begann ich mich als Teenager zu fragen. Wenn Leben jedoch bedeutete, weitergegebene und von der Umgebung angenommene Verhaltens- und Sprachmuster unbeobachtet und unbewusst zu leben, bedeutete dies nicht, dass man sein Leben nicht mehr selbst bestimmte? Wo war das echte, das selbstbestimmte Leben? Wie würde ich es finden? Es musste sich in mir verbergen. Denn ich war ja die, die lebte. Ich war das Subjekt zum Prädikat. Doch wer war ich? Woher kam ich? Ich kam aus einem Land, das es irgendwie nicht zu geben schien. Mir gelang es nicht, mich mit der größeren Gruppe, zu der ich augenscheinlich gehören sollte, zu identifizieren. Geburt ist doch zufällig, dachte ich. Welche Wichtigkeit hat es schon für mich, dass ich in ein bestimmtes Volk hineingeboren worden war? Ich bezeichnete mich als heimatlos. Unterwegs wirklich zu Hause fühlte ich als einzige Wahrheit. Boden unter den Füßen gab mir keinen Halt. Als Jugendliche, noch immer in der Beobachtung steckend, entdeckte ich ein Stück Erde, zu dem ich tatsächlich gehörte: Europa. Zunächst über Geschichten im Lateinunterricht. Ich war es gewohnt, dass sich beim Lesen und Hören von bestimmten Geschichten der Schleier etwas lichtete. Was genau es war, das mich derartig berührte, so dass etwas in mir aufwachte, weil ich mich in ihnen zu erkennen glaubte, war mir damals noch nicht bewusst. Manche Geschichten kehrten einfach wieder und wieder. Ovids Metamorphosen brannten sich in mein Gedächtnis ein und meldeten sich auf poetische Art und Weise, wenn ich in Gedanken über die Welt versank. Seine “Kuhäugige” hat mich nicht verlassen, seitdem ich im Lateinunterricht mit 16 zum ersten Mal von ihr las. Eine Göttin so schön mit Augen groß und blau wie die einer Kuh. Ich erinnerte mich lange nurmehr an “eine Frau”. Erst Jahre später auf der Universität, als einige Linguistik- und Literaturvorlesungen mein Denken verändert hatten, ich Zeichen und Bezeichnetes weniger starr betrachtete, konnte ich in den Spiegel blickend Ovid nachvollziehen. Eine Frau mit Augen groß und blau wie die einer Kuh. Das waren schöne Augen, mystische Augen. Denn sie waren gar so exoterisch, dass ich gänzlich auf mich selbst zurückgeworfen der Verantwortung gegenüberstand, mich ohne das “Du” als “Ich” zu fühlen. Wer war ich ohne die Möglichkeit einer Abgrenzung zum Anderen? Ich sah jeden Tag in diese Kuhaugen und suchte nach Antworten. Wer war ich? Oft fand ich bloß den nichtssagenden Frieden einer Kuhweide. Nichtssagend, denn wie konnte man auf einer Weide von Frieden sprechen? Hatten Weiden jemals Krieg gesehen? Im selben Lateinunterricht übersetzten wir weitere seiner Zeilen, die sich für immer in mein Bildgedächtnis einschrieben. Er erzählte von einem dunklen Nichts ohne Beginn oder Ende, von einem Hinabgehen in die Ewigkeit und einem Aufgang, der sich selbst einfror. Von einem Liebenden, der seine Geliebte aus der Unterwelt befreien wollte. “Und sie waren nicht mehr weit vom Rande der Oberwelt entfernt – hier wandte der Liebende seine Augen zu ihr, weil er fürchtete, dass sie ermatten würde, um aus Begierde sie zu sehen, und sogleich sank jene zurück, und die Arme ausstreckend und sich bemühend zu ergreifen und ergriffen zu werden, bekam der Unglückliche nur die zurückweichende Luft zu fassen.” Als jene Zeilen übersetzt im Raum schwebten, verstummte dieser. In meinem Kopf war alles still geworden und ich sah Eurydikes aufgerissene Augen, fühlte den Wind, welcher niemals wieder ihre Wange berühren würde. Orpheus hatte nicht an ihre Kraft geglaubt. Ich fühlte ihre beider Schmerzen, gemeinsam mit dem ganzen Riss in der Unterwelt, welche sich das gerade erst eingesetzte Herz eigenhändig aus der Brust riss. Sie hatte sich zu empathischer Menschlichkeit erbarmt und die tote Geliebte dem Lebendigen zurückgeben wollen, und war doch von der Ungeduld des Menschen in ihrer Bestrafungsmanier bestätigt worden. Der Mensch war doch nicht zu ertragen in seiner Widersprüchlichkeit, in seinen Wünschen, in seiner Zerrissenheit zwischen seinem als Fürsorge getarnten Unglauben in den anderen und seinem Drang, den Mut zu finden, für Liebe und Zusammengehörigkeit zu kämpfen. 

Wenn man zusammenbleiben möchte, muss man aneinander glauben, sonst wird man doch wieder voneinander getrennt. Geschichten gaben mir das Gefühl, dass ich zu ihnen gehörte. Zu ihren Autoren, zu der Welt aus der sie kamen, zu den Werten, die sie verkörperten, vor allem aber zu den Sehnsüchten, von denen sie erzählten. Sehnsucht kannte ich. Sehnsucht war es, die mein Schlüssel der Befreiung aus den Mustern war, die mich fest im Griff hatten. Meine Sätze, die ich sprach, folgten Schablonen. Wenn auch ich es war, die die Satzglieder mit Bedeutung versah. Ich hörte mir selbst dabei zu wie das, was ich sagte, nicht das war, was ich meinte. Wenn ich jedoch Sehnsucht fühlte, legte diese das unaufhörliche Beobachten und Analysieren still. Ruhe. Als hätte ich den Sprung in eine andere Welt geschafft und sah deswegen die Realität mit neuen Augen. Doch wie diese Welt aussah, wusste ich nicht. Ich nahm lediglich die Entfernung zu ihr als eine mein Herz zerreißende Sehnsucht wahr. Irgendwas stimmte nicht mit meinem Leben. Doch wer träumte von dieser Welt, wenn nicht Ich? Woher kam die Sehnsucht, wenn nicht von mir? Von einem anderen Ich? Angesichts dessen, dass es wohl mehrere Ichs gab, nicht nur eines, das die Welten beobachtete, sondern mindestens noch ein weiteres, das mittels eben jenes Sehnsuchtsschmerzes mir irgendwas sagen wollte, schien mir die einzige sinnvolle Art, mit dieser psychischen Flexibilität umzugehen, – also mit der Fähigkeit, mehrere Identitäten einzunehmen – diese als Wachstumspotenzial zu betrachten. Ich bestimmte, dass ich die war, die sich entscheiden konnte, womit sie sich identifizierte. Wenn vorher die Macht meinem Umfeld zugestanden war, mich als dieses oder jenes zu bezeichnen, dann konnte ich sie wieder an mich reißen. Ich beschloss, ich war die Sehnsucht und nicht meine Muster. Das Ich, das ich suchte, war also in Wahrheit keine feste Identität. Sondern eine Kraft, die in der Lage war, Absichten zu formulieren und daraus resultierende Veränderungen auszuhalten. Eine Kraft, die in einem Körper steckte, um ihn gesund zu halten und mithilfe seiner Möglichkeiten und Fähigkeiten das auszuführen, was sich Leben nannte. So stellte ich mir das vor. Damit ich eben nicht meiner Angst erlag, aus Misstrauen zurücksah und mein eigenes Leben einfror. Damit ich, hatte ich mir ein Ziel gesetzt, meine Augen nicht abwandte, und darauf vertraute, dass alle meine anderen von mir an die Unterwelt verlorenen Teile, die ich zu befreien gedachte, mit mir ankamen in einer Welt, die sich durch meine Ankunft erschaffen und zu einer werden würde. Die Suche nach dem wahren Ich begann also damit, dass ich aus einem Land kam, an dessen Eigentum ich keinen gesicherten Anteil hatte. Ein deutlich bezeichneter Bezug zu Raum und Zeit, der nicht nur unmittelbar ist, sondern historisch und auf ein ihm zugehöriges, ihn schützendes Kollektiv bezogen, war mir unzugänglich. Diese beiden Grundidentifikationen, braucht der Mensch, um Ordnung in seinem Geist zu schaffen. Als ich auf die Welt kam, wurde mir nicht mit mitgegebene, welchen Boden ich ungefährdet betreten durfte. Welche Gruppe von Menschen die Ressourcen hatte, mir eine Welt zu sein, in der ich normal heranwachsen konnte, um ein selbstbestimmtes Individuum zu werden. Meinen Eltern, die dafür zuständig waren, mir die für Wachstum notwendige Sicherheit zu vermitteln, konnten dieser Aufgabe des Elternseins nicht nachkommen. Ihre Identitäten hingen an einem Kollektivgedanken, der darum kämpfte, nicht zu verschwinden. Sie gingen auf einem Boden, der geliehen war. Sie atmeten die Luft eines Volkes, dem es an lebendigen Echtheit mangelte. Echtheit, die nur den Ländern zu Teil ist, die sich anhand selbstbestimmter politischer Entscheidungen den Bedürfnissen ihrer Bürger anpassen und sich deswegen Republiken nennen dürfen. Meine Eltern atmeten mit der Lunge eines Volkes, dem es entsagt war, sich selbst zu erschaffen – die Köpfe in einem Nebel aus Hoffnung, die zu ersticken drohte. Ohne festen Tritt auf einer Erde, die einen nicht nur trägt, sondern auch hält, wenn man schwankt, fängt der Geist an, seinen selbstbestimmten Willen zu verlieren…